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An meine Göttin Lena
Nutzvieh in Arbeit
Erzählung
Es war nach zehn Uhr am Abend, das Büro war leer, im fünften Stock des gläsernen Gebäudes war das abklingende Geräusch der Straße kaum zu hören. Mein Arbeitstag war unendlich lang, so dass ich nicht einmal meine Müdigkeit wahrnahm, die, wie eine schwarze Wolke, meine Glieder, meinen ganzen Körper lahmlegte, während ich in die Leere dachte, weil eben die Problemlösung wie ein Automat ihren eigenen Weg folgte, der nicht mehr die Teilnahme meines aktiven Bewusstseins beanspruchte. Mein Schreibtisch lag gerade vor dem Fenster, draußen begann es leicht zu rieseln. Das Fenster wurde von schwimmenden Regentropfen rasch bedeckt, so dass ich nur mehr verschwommene Streiflichter sah; einige waren erstarrt, andere bewegten sich schneller oder langsamer.
Es war schon der fünfte Tag meiner Marathon-Arbeit, ich musste das Programm am nächsten Tag abgeben. Fünf Tage ohne Worte, ohne menschliche Geste, ohne einen Wink, sei es das Zeichen der Teilnahme oder Bedauern. Ich konversierte mit dem Computer, der seine Arbeit präzis, blitzschnell und geduldig verrichtete und sich nie geirrt hatte. Der Dialog mit ihm war recht einseitig, daher manchmal auch nervenaufreibend. Eine mögliche Antwort von ihm lautete z.B. wie „XH%§D5“ die nicht wirklich auf humanen Ideenreichtum andeutete. Ich sah zwar menschliche Gesichter in der Kantine, wo ich mein Mittagessen eiligst verspeiste, zum Sprechen kam es dennoch meistens nicht, eher bloß zur flüchtigen Begrüßung. Aha, Kontakte waren doch da, murmelte ich langsam, ich habe am Tag den DB-Administrator zweimal angerufen. Sonst kamen und gingen die Kontakte mittels Emails und Excel-Tabellen, die ich in Abundanz erhielt, weil der Führungsstab sich bei uns wie überall sonst in Tabellen ergötzte, die zwar noch unmenschlicher als jegliche andere Kommunikationsform sind, allerdings nur blanke Zahlen enthalten, die einzige „Informationen“, die in einem Massenbetrieb wie diese für den Vorstand interessant waren.
Gegen elf Uhr rutschte mein Kopf leicht nach vorne, so dass ich die Knöpfe an meiner Jacke zu zählen begann, dann dachte ich, es ist genau Zeit, nach Hause zu gehen, nur mir kam es plötzlich einmal vor, dass ich im Kühlschrank nichts Essbares habe, daher einen erheblichen Umweg machen muss, um Brot und dergleichen im Supermarkt zu besorgen, welcher mittels des öffentlichen Verkehrs recht lang dauerte.
Endlich kam ich nach Hause, es war gut nach zwölf. Ich kochte Teewasser, bereitete alles zum Essen vor, und begann auf dem dreibeinigen Hocker, der neben der Arbeitsplatte stand, den Tee zu schlürfen. Meine Gedanken flogen mit bleiernen Schwere, dann mit einem jähen Ruck schubste ich alles Kram beiseite und warf mich auf die Matratze zum Schlafen, nur diesmal war ich unüblich wach und dachte an die Kollegen, die um das gleiche Geld arbeiten, in prächtigen Appartements wohnen, auf Urlaub gehen, Oberklassenautos fahren, verständnisvollen Lebenspartner und glücklichen Sex haben… alles was ich nicht habe… ich sah in der nächtlichen Dämmerung meine Mietwohnung, ein erbärmliches Zimmer, welches im Untergeschoß lag, hatte oben zwei winzigen Klappfenster, wo sich selbst in der größten Juli-Hitze ein muffiges, verwelktes Gestank ausbreitete. Meine Einrichtung bestand aus einer Matratze, einer billigen Einbauküche, einem armseligen Schrank und einem Schreibtisch, der aus meinem Arbeitsplatz ausgemustert wurde und ich zur Heimarbeit gebraucht hätte, habe aber so gut wie nie in Anspruch genommen, weil ich viel lieber im Büro arbeitete, wo wenigstens jede Menge Raum und Licht vorhanden waren.
Meine Wohnung war eine der sogenannten Monteur-Wohnungen im Untergeschoß, insgesamt fünf, die als provisorische Unterkünfte für Fachleute wie Wasser- und Elektroinstallateure und dergleichen dienten, die ihre Arbeit zufällig in dieser Gegend verrichteten, die aber ihre gewöhnlichen Wohnorte woanders hatten. Ich hingegen hatte alleinig diese Wohnung, wo ich den Rest meines Lebens zubringen sollte. WC, Waschraum und eine größere Küche waren im Flur, für alle Wohnungen gemeinsam.
Als ich meine elenden Umstände mit peinlicher Genauigkeit schlaflos abermals aufzählte, fiel mir etwas plötzlich ein, sprang aus der Matratze, ging zum Schreibtisch und machte meinen Laptop auf. Sie hat mir wieder Bilder und Videos aus ihrem Urlaub geschickt. Ich blickte auf die Uhr: drei in der Nacht. Ich wühlte fieberhaft meine Mailbox durch, und fand tatsächlich ihre neuesten Nachrichten mit vielen Bildanlagen, persönlich an mich und nicht auf ihre Homepage geschickt. Sie war im Urlaub auf den Azoren, und verweilte vermutlich in Santa-Cruz, auf einer der malerischen Insel im Nordatlantik.
Ihre Bilder… hm… wie sie splitternackt lachend in einem prächtigen Motorboot stand, im Hintergrund das unendliche Blaue des Meeres… und ein anderes, wo sie schweißbedeckt in einem Nachtlokal tanzte, ein drittes, im Hotelgarten neben dem großen Pool an der Sonne liegend…
Ich flog alle ihre Bilder durch… dann zog der unweigerliche Schlaf meine Augen mit einem gnädigen Ruck zusammen und ich begann sofort zu träumen… und sah alle Bilder unserer letzten Begegnung vor etwa einem Jahr mit erstaunlicher Schärfe. Ich habe in meinem Gedächtnis alle ihre Geste, selbst ihr kleinstes Augenzwinkern mit der größtmöglichen Genauigkeit aufbewahrt.
Um sechs Uhr läutete der Wecker. Ich sprang auf, meine düsteren Gedanken waren wie Wunder verschwunden; ich fühlte mich in meiner elenden Bude glücklicher als jene, deren Schicksal ich gestern so beneidenswert heraufbeschwor; ich habe keinen Grund und kein Recht, dagegen zu revoltieren. Warum, sieht ihr weiter unten.
(wird fortgesetzt)